96 Stufen Wahrheit.
Strahlender Sonnenschein. Dirndl passt. Schuhe sind bequem. Frisur sitzt. Ab ins Festzelt. Tische und Bänke wischen. Den „Arbeitsbereich“ markieren. Damit es für alle Teams möglichst fair ist, wechseln wir nämlich jeden Tag unseren Servicebereich. Mal weite Wege zur Schänke, mal gleich neben der Küche, mal direkt am Eingang und mal in der Box bei den Reservierten Tischen. Man kommt schon rum, so als Bedienung.
Die Vorstellung jetzt gleich mit 10 Maß Bier durch die Gänge zu laufen – mir tut alles weh. Die kann ich ja niemals tragen. Woher soll ich denn jetzt auf einmal die Kraft nehmen. Des ganze Jahr sitze ich am Schreibtisch, vielleicht noch ein bisschen auf dem Pferd, fahr mal mit dem Radl zum Einkaufen – aber das hier, das ist was anderes. Schnell laufen (konnte ich schon bei den Bundesjugendspielen nicht), schwer tragen (und dabei ein bezauberndes Lächeln aufsetzen) und mir dann noch merken, welches Bier an welchen Tisch. Oh Gott. Ich glaub ich geh einfach wieder heim. Das schaffe ich niemals!
„Ab Marsch! Einer pro Team! Treffpunkt Haupteingang!“ Alles klar! Kurzer, suchender Blick nach meinem Team-Partner, der ist weg. Gut, dann eben ich.
Dachau ist die größte Stadt im Münchner Umland. Die Amper fließt mitten durch und am Schlossberg ist mit 518m der Höchste Punkt der Stadt. „Oben am Berg“ ist auch die Dachauer Altstadt. Hier beginnt der jährliche Einzug der Brauerrein und Festwirte. Sind wir ehrlich, was wäre ein Festwirt ohne seine Bedienungen – nix. Völlig richtig. Und weil es einfach ein schönes Bild gibt, wenn die Bedienungen ihrem Festwirt hinterher „dackeln“ ist es eben zur Tradition geworden. Selbstredend, Kilometer würden die Bedienungen ausreichend laufen in den nächsten Tagen. Es wäre nicht zwingend notwendig, die Tagesschrittzahl noch zusätzlich durch einen Festumzug zu erhöhen – aber es ist einfach schön. Und es gehört dazu.
96 Stufen Wahrheit und ein Weißbier!
„Aufbackelt“ nennt man es in Bayern, wenn jemand viel dabeihat, trägt. Eine gute Bedienung ist „aufbackelt“ wie damals der Esel, der Maria und Josef in Richtung „Volkszählung“ gebracht hat. Geldbeutel, Schreibzeug, Zahnstocher, Kleingeld, Salz und Pfeffer, Kopfwehtabletten, Flaschenöffner, Besteck, Putzlappen, Zigaretten, Handy, Servierten, Pflaster, Deo und Haargummi. Eigentlich haben wir alles dabei. Natürlich nicht alle. Jede ist ein bisschen anders. Aber im Prinzip können wir mit fast allem aushelfen.
An dieser Stelle könnte man sich mal die Zeit nehmen und mit einem Vorurteil aufräumen: Bedienungen haben nämlich nicht die Taschen voll Kondome! Der Großteil der Mädels und Frauen die im Bierzelt arbeiten, machen das, um die Haushaltskasse aufzubessern. Die meisten haben eine Familie, einen Mann und oftmals sogar Kinder. Und ja, eine Bedienung geht zum Arbeiten, weil sie Geld verdienen will. Natürlich. Und sie lacht, ist freundlich, nett und charmant, weil sie Geld verdienen will. Und ja. Eine Bedienung weiß, dass wenn sie nett und freundlich lächelt, sie mehr Trinkgeld bekommt, wie wenn sie grantig dreinschaut. Das ist ja auch ihr Job! Aber eine Bedienung ist nicht kriminell, keine Prostituierte und auch keine Halsabschneiderin. Ausnahmen – haben die Regel – und sind wie in jedem anderen Beruf auch hier zu finden. Das nur am Rande bemerkt!
Die 96 Stufen der Dachauer „Martin-Huber-Treppe“ sind lang, steil und kräftezehrend. Auch in Flip-Flops und kurzer Hose. Mein „leichtes Marschgepäck“ wiegt ca. 4,5 Kg. Ein Dirndl gilt weithin nicht als „Sportoutfit“ und dass ich Turnschuhe trage zum Arbeiten macht die Situation nicht im geringsten einfacher! Zähne zam beißen und hoch da. Gleichmäßig atmen. Ruhiges Tempo und möglichst nicht ratschen während dem gehen. Puhh. Ich bin oben. Jetzt kribbelt es ganz leicht. Die erste Kutsche steht schon in der Startposition. Am Marktplatz, auf dem der Festzug Aufstellung nimmt, wartet ein kühles, frisches Weißbier auf die Besucher – und auf die Bedienungen. Mhhh. Ein Weißbier in der Sun. Kann einfach alles. Isotonisch. Genau des richtige jetzt. Die ersten Takte der Blasmusik sind zu hören. Der Festzug setzt sich in Bewegung. Gäste, Zuschauer, Kinder, Eltern und Rentner säumen die Straße. Es geht los! Die Festwirte machen sich auf den Weg in ihr „zu Hause“ für die nächsten 10 Tage.
Und wenn ich da jetzt so laufe, die Blasmusik höre, das Hufgetrappel, die Sonne so vom Himmel strahlt und mir das erste Mal der Duft von gebrannten Mandeln in die Nase steigt – weiß ich, dass ich des alles schaffe. Die 96 Stufen haben mir mal wieder die Wahrheit gesagt!